«Über die Gefilde Siziliens wandeln, wie in grossgriechischen Zeiten, vier Grazien, frisch von Hollywood oder von Hot Springs importiert und stilvoll in antiken Faltenwurf drapiert: sie stellen die 'vier Freiheiten' Roosevelts dar, Freiheit des Glaubens, Freiheit der Rede, Freiheit von Not und Freiheit von Furcht, und halten, wie man bis zum Eintreffen der ersten Bildreportagen annehmen darf, die entsprechenden Symbole in den Händen, Gesangbuch, Mikrophon, Gefrierfleisch und Leumundszeugnis.»
[7. August 1943, nach der Invasion Siziliens durch die Alliierten im Juli 1943]
Werke I, Fünf Minuten nach zwölf, 1942-1945, S. 148
«Es ist wichtig, die Geburt dieses Begriffs der Nation im Stande der Unschuld zu erfassen, um den tiefsten Wesenszug der französischen Geschichte zu begreifen: dass diese Nation im Grunde immer nur mit sich selber beschäftigt war, auch dann und gerade dann, wenn sie sich in ihren grössten Augenblicken mit der Christenheit, dem Abendland oder der Menschheit schlechthin identifizierte. Frankreich hat die Welt immer nur als Projektion seiner selbst gekannt und verstanden.»
[1954]
Werke II, Frankreichs Uhren gehen anders, 1954, S. 10
«Krieg wird mit scharfer Munition und unscharfen Begriffen geführt. Die unscharfen Begriffe sind die heimtückischere Waffe. Sie wirken langsam, schleichend, unheimlich und wahllos wie Giftgas; aber keine Genfer Konvention verbietet ihre Anwendung. Sie lösen die Gehirnsubstanz auf, lähmen das Denkvermögen und desartikulieren die Sprache, und ihr Gift wirkt weit über den Krieg hinaus virulent weiter.»
[1945]
Werke III, Essays I, 1940-1963, S. 60
«Mit dem sicheren Instinkt ihrer kritischen Intelligenz hatte die studierende Jugend von jeher begriffen, dass die einzig wahre Klassengliederung der Gesellschaft die Gliederung in Altersklassen ist und der einzig wahre Klassenkampf somit der ihre. Das Kennzeichen des Spiessers und Philisters ist ja eben, dass er erwachsen ist, einen Beruf hat und womöglich gar noch Weib und Kind dazu – und in besonders hoffnungslosen Fällen ist er sogar noch stolz darauf; gegen die entsetzliche Perspektive, ebenfalls erwachsen und seinesgleichen zu werden, hilft nur Brachialgewalt.»
[1969]
Werke IV, Essays II, 1963-1990, S. 243
«Aus der Einsicht in die Relativität des eigenen geistigen Bezugssystems, das nur eines unter unzähligen ist, schöpft Montaigne den wachen Sinn für das Geheimnis der Menschen und der Dinge, die Scheu vor der geistigen Eigengesetzlichkeit des andern, die wir nur von aussen, nicht aber in ihrem Wesen und ihren Motiven erfassen und erfahren können… Diese so seltene und köstliche Fähigkeit, sich in das Gegenüber zu versetzen und das innere Gesetz des anderen als gleichrangig zu achten, hat er bis zur äussersten Grenze getrieben: 'Wenn ich mit meiner Katze spiele, wer weiss, ob sie sich nicht noch mehr die Zeit mit mir vertreibt, als ich mit ihr?' Der ganze Montaigne steckt in diesem hingeworfenen Satz.»
[1953]
Werke V, Essays III (Frankreich), 1941-1990, S, 193