Herbert Lüthy
Der Historiker und Publizist Herbert Lüthy gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten des geistigen Lebens in der deutschsprachigen Schweiz der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ähnlich wie bei Jean Rudolf von Salis prägte die französischen Geschichte und Kultur Lüthys Schaffen und führte zu jener engen Verbindung von Wissenschaft und Journalismus, wie sie für französische Intellektuelle bezeichnend ist. Für beide Historiker, die zur gleichen Zeit an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich lehrten, war die Kenntnis der Vergangenheit eine wichtige Voraussetzung, um die Gegenwart zu verstehen und der Zukunft gewachsen zu sein. Dies im Sinne von Alexis de Tocquevilles Wort: "Le passé n'éclairant plus l'avenir, l'esprit marche dans les ténèbres."

Im Jahre 1918 in Basel geboren, besuchte Lüthy die Schulen in Glarus und St. Gallen und schloss seine Studien in Paris, Genf und Zürich 1942 mit der Doktorpromotion im Fach Geschichte ab. Früh übte sich Herbert Lüthy in der journalistischen Berichterstattung: Für das St. Galler Tagblatt verfasste er in den Kriegsjahren Kommentare zum Zeitgeschehen, und er setzte diese publizistische Tätigkeit zwischen 1946 und 1958 in Paris fort, wobei er bald mit derselben stilistischen Brillanz auf Französisch formulierte. Hervorgehoben seien Lüthys Beiträge für die renommierte, von Melvin J. Lasky begründete kulturelle Zeitschrift Der Monat, die nach 1948 in Berlin erschien und einen wesentlichen Beitrag zur Westintegration der Bundesrepublik leistete. Die Krönung dieser Phase der publizistischen Tätigkeit bildete 1954 das Werk Frankreichs Uhren gehen anders, eine Darstellung unseres westlichen Nachbarlandes zur Zeit der Vierten Republik, in der sich analytischer Tiefgang, polemische Schärfe und formale Eleganz verbinden. Das Buch erfuhr mehrere Auflagen und wurde ins Französische, Englische, Amerikanische und Italienische übersetzt.

Es macht die erstaunliche Doppelbegabung Herbert Lüthys aus, dass er gleichzeitig mit seinen publizistischen Arbeiten ein umfangreiches, auf Archivstudien beruhendes wissenschaftliches Opus verfasste, das zu den Standardwerken neuerer Wirtschaftsgeschichte gehört: La Banque Protestante en France, de la Révocation de l'Édit de Nantes à la Révolution. Dieses Werk umfasst zwei Bände, die 1959 und 1961 erschienen sind. Auf den Pariser Aufenthalt ging auch Herbert Lüthys Idee einer Übersetzung ausgewählter Essais von Michel de Montaigne zurück (1953). Diese Übersetzung, eingeleitet mit einem magistralen Vorwort, hat Montaigne im deutschen Kulturbereich erst eigentlich bekannt gemacht.

Im Jahre 1958 wurde Herbert Lüthy Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Dort befasste er sich auch mit Fragen der Geschichtstheorie sowie mit Schweizer- und Überseegeschichte. Wichtiges Thema seiner Überlegungen war der spannungsvolle Gegensatz zwischen schweizerischer Selbstbezogenheit und Weltoffenheit und die Rolle unseres Landes in einem künftigen Europa. "Wir diskutieren besorgt die Haltung", schrieb er 1961 im Essay "Die Schweiz als Antithese", "die wir gegenüber der wirtschaftlichen Integration Europas einnehmen sollen, die für viele Schweizer zu einem Alpdruck geworden ist, und während wir darüber diskutieren, als ob es sich um eine Sache handelte, die wir nehmen oder zurückweisen können, vollzieht sich diese Integration Tag für Tag, unmerklich und unaufhaltsam, und sie lässt sich dadurch nicht rückgängig machen, dass wir uns weigern, an ihrer Organisation teilzunehmen." Zahlreiche Essays von Herbert Lüthy sind in den Sammelbänden Nach dem Untergang des Abendlandes (1964) und In Gegenwart der Geschichte (1967) erschienen; eine Auswahl dieser Arbeiten ist unter dem Titel Wo liegt Europa? 1991 neu herausgegeben worden.

1971 wechselte Herbert Lüthy an die Universität Basel, wo er bis zu seiner Emeritierung 1980 tätig blieb und wo er 2002 verstarb. Für seine herausragenden wissenschaftlichen Leistungen ist Herbert Lüthy mit der Ehrendoktorwürde der Universitäten St. Gallen und Genf ausgezeichnet worden, er wurde Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Sciences und gehörte der Herausgeberschaft des Journal of Contemporary History an. Herbert Lüthy setzte sich auch für die Lösung der Jurafrage ein und wirkte in verschiedenen wichtigen Gremien mit, so im Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), im Vorstand der Schweizer Monatshefte und im Herausgeberstab der Documents diplomatiques suisses.

Das hohe Ansehen, das sich Herbert Lüthy als Forscher und Journalist, aber auch als engagierter Staatsbürger im In- und Ausland erwarb, liess es als wünschenswert erscheinen, sein Werk in ähnlicher Weise einem interessierten Publikum neu zugänglich zu machen, wie dies mit dem Werk Karl Schmids, des Kollegen Herbert Lüthys an der ETH, geschehen ist (NZZ Libro). Dies um so mehr, als, ähnlich wie im Falle Schmids, einzelne wichtige Arbeiten Lüthys vergriffen und zahlreiche kleinere Publikationen verstreut und schwer zu beschaffen sind. Eine Werkausgabe dieser Art soll das wissenschaftliche Werk dieses Autors, aber auch kleinere journalistische Arbeiten, deren Lektüre noch heute reines Lesevergnügen vermittelt, erneut zugänglich machen und es ermöglichen, die Lebensleistung Lüthys im Zusammenhang zu überblicken.

Die Werkausgabe Herbert Lüthy ist auf sieben Bände angelegt. Die ersten zwei Bände umfassen die "Kleinen Wochenschauen" aus dem St. Galler Tagblatt unter dem Titel Fünf Minuten nach zwölf und Frankreichs Uhren gehen anders. Die Bände III und IV enthalten Essays mit breit gefächerter internationaler und schweizerischer Thematik aus den Jahren 1940 bis 1990. Es folgen in Band V Arbeiten aus den Jahren 1941 bis 1990, die sich mit Frankreich befassen, sowie eine Gesamtbibliographie von Lüthys Werk. Die Werkausgabe schliesst ab mit der Neuauflage der Banque Protestante en France. Um den Zugang zum Werk zu erleichtern, ist jedem Band eine Einführung vorangestellt worden, und in einem ausführlichen Anhang finden sich Anmerkungen und erklärende Kommentare, welche das Textverständnis erleichtern und es gestatten, die einzelnen Texte in den historischen und politischen Zusammenhang einzuordnen.
Urs Bitterli